Was ist Antisemitismus?
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Antisemitismus – der Begriff legt nahe, dass er bedeutet, gegen Juden zu sein: Judenfeindschaft, Judenhass. Dabei hat Antisemitismus mit realen jüdischen Menschen nichts zu tun, er entsteht unabhängig von ihrem tatsächlichen Verhalten.
Nach der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance ist Antisemitismus "eine bestimmte Wahrnehmung von Juden (…)". Das ist schon der Kern, auf den es ankommt: Eine, ganz bestimmte Sicht dominiert, anstatt die jeweilige Person in ihrer Unterschiedlichkeit und Individualität wahrzunehmen. Wer sich über jüdische Menschen eine Meinung bildet, die von ihrem Judentum abgeleitet wird anstatt von ihrem konkreten persönlichen Verhalten, handelt antisemitisch. Juden und Jüdinnen haben außer ihrem Jüdischsein erst einmal nichts gemeinsam—sie sind genauso unterschiedlich wie Angehörige anderer Religionen und Kulturen. Auf dieses Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe kommt es an: Antisemitismus fängt da an, wo aus der Gruppenzugehörigkeit Eigenschaften Einzelner abgeleitet werden und umgekehrt. Wenn Juden als Gruppe Eigenschaften zugeschrieben werden, die über ihr faktisches Jüdischsein hinausgehen, ist das antisemitisch. Das gilt auch für positive Attribute, wenn etwa behauptet wird, Juden seien besonders klug, oder für das jahrhundertealte Klischee der "schönen Jüdin". Solche philosemitisch genannten Verallgemeinerungen sind ebenfalls eine Form von Antisemitismus.
Die Wurzeln antisemitischer Stereotype
Dabei werden antisemitische Klischees und Stereotype oft nicht als solche bemerkt, sondern als vermeintliches Wissen wahrgenommen und sozial weitergegeben: "Aber Juden sind doch reich", sie "zahlen keine Steuern" oder seien "geldgierig und besonders mächtig, das weiß doch jeder!". Ihre Rachsucht stehe doch schon im Alten Testament: "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Solche antisemitischen Bilder haben oft historische Wurzeln, die ihnen Glaubwürdigkeit verleihen sollen. So waren Juden im Mittelalter zum Beispiel von Handwerksberufen ausgeschlossen und durften keinen Zünften oder Gilden beitreten. Handel und Geldverleih gehörten zu den wenigen Tätigkeiten, die ihnen erlaubt waren. In dieser historischen Diskriminierung wurzelt das Klischee, Juden trieben "Wucher", seien reich oder geldgierig. Dass viele jüdische Menschen arm waren und arm sind, wird dabei verdrängt.
In Form des Stereotyps der oder des "Fremden" reicht Judenfeindschaft als der wohl älteste bekannte Hass der Geschichte bis in die Antike zurück. Mittelalterlicher, religiös geprägter Judenhass entstand im Zuge der Abgrenzung des entstehenden Christentums von der "Vaterreligion" des Judentums, gegen das rebelliert wurde, während die gemeinsamen Ursprünge verdrängt wurden. In dem Grundmechanismus, dass eine Gruppe zum Stellvertreter für unverstandene Übel wird, liegt die virtuelle Qualität von Antisemitismus begründet. Dass er als Weltdeutungsmuster auch in Gegenden ohne jüdische Bevölkerung existiert, liegt an diesem imaginären Charakter, der vor allem mit den Vorstellungen der nichtjüdischen Mehrheit über die Minderheit zu tun hat. Deshalb umfasst er auch so viele widersprüchliche Zuschreibungen: Juden wurden sowohl für Bolschewismus als auch für einen ungebremsten Kapitalismus verantwortlich gemacht, sie gelten gleichzeitig als ganz anders und als zu angepasst. Einen Grund für Antisemitismus im Sinne der Vernunft oder einer Kausalität gibt es nicht, er bleibt eine irrationale und falsche Scheinerklärung.
Was ist das Besondere am Antisemitismus?
Strukturell sind sich Antisemitismus und andere Diskriminierungen ähnlich: Immer werden einer ganzen Gruppe von Menschen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Im Zuge des Aufkommens rassistischer Diskurse im 19. Jahrhundert wurde der moderne Antisemitismus nun wissenschaftlich gerechtfertigt. Viele Philosophen der Aufklärung vertraten vermeintlich rational begründete judenfeindliche Ansichten.
Das Besondere am Antisemitismus ist, dass er sein Feindbild nicht nur wie im Rassismus oder in der Xenophobie als unterlegen oder minderwertig konstruiert, sondern auch als übermächtig und überzivilisiert. Im antisemitischen Denken verkörpern "die Juden" oftmals das Abstrakte und die Werte der modernen, globalisierten Welt. Darin stellt der Antisemitismus eine Verarbeitung der Dynamiken der Moderne und der Aufklärung dar. Die Komplexität moderner Gesellschaften wird auf ein einfaches Schema reduziert: Mächtige Juden ziehen angeblich heimlich die Fäden und kontrollieren etwa die Wirtschaft, die Medien oder politische Institutionen. Insofern ist Antisemitismus auch ein Weltdeutungsmuster und tritt oft in Verbindung mit Verschwörungsmythen auf. Seine Grundstruktur ist dabei immer gleich: Täter-Opfer-Umkehr und Kollektivismus zeichnen jede Form von Judenhass aus. Die eigentlichen Opfer – die so Angegriffenen – werden zu Tätern stilisiert, zum Beispiel, wenn behauptet wird, Juden profitierten heute vom Holocaust oder redeten zu häufig darüber. Außerdem werden Juden von Antisemiten als Bedrohung für das eigene Kollektiv wahrgenommen.