Klein: "Wenn die Spannungen im Nahen Osten zunehmen, steigt auch bei uns die Zahl antisemitischer Vorfälle“

Typ: Interview , Datum: 29.11.2024

Felix Klein sprach im Interview mit Claudia Kramer-Santel und Elmar Ries von der Münsterschen Zeitung unter anderem über die Gefahr, dass Juden weltweit in Kollektivhaft für das Handeln der israelischen Regierung genommen werden und über die Notwendigkeit, das Thema Israel in die Lehramtsausbildung aufzunehmen. Das Interview wurde in der Münsterschen Zeitung am 29. November veröffentlicht.

Münstersche Zeitung

Nach dem 7. Oktober 2023 kam es zu einer Vielzahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland. Eine Zäsur?

Immer, wenn die Spannungen im Nahen Osten zunehmen, steigt auch die Zahl antisemitischer Vorfälle. Doch es war noch nie so heftig wie jetzt. Das Absurde: Die Straftaten sind direkt nach dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober 2023 nach oben geschnellt –  noch vor einer israelischen Antwort. Experten sprechen in Zusammenhang mit solchen Ereignissen von Gelegenheitsstrukturen, also Rahmenbedingungen für das Ausleben ohnehin schon existierender antisemitischer Denkweisen. Auch die Proteste gegen Corona-Maßnahmen oder die Documenta 15 in Kassel, bei der  Bilder unreflektiert antisemitische Stereotype zeigten, stellten solche Gelegenheitsstrukturen dar, die die Zahl antisemitischer Übergriffe unmittelbar ansteigen ließen.

Was macht das mit Ihnen persönlich?

Ich bin extrem bestürzt, dass das Sicherheitsgefühl jüdischer Menschen in Deutschland nun so erschüttert ist. Dass inzwischen viele ihre Identität wieder kaschieren, Taxis unter falschem Namen bestellen, wenn er jüdisch klingt –  oder  sich nicht mehr als jüdisch erkennbar zeigen in der Öffentlichkeit. Wir haben zum Glück noch keine größere Auswanderungswelle von Jüdinnen und Juden. Aber viele sind verständlicherweise tief verunsichert.

Ist Deutschland wieder antisemitisch geworden?

Dass der Antisemitismus nach 1945 plötzlich weg sein soll,  war doch eine Lebenslüge der jungen Bundesrepublik. Wahr ist: Er blieb weiter da, man hat sich einfach nicht damit beschäftigt, auch rechtsextreme Strukturen waren ja nicht verschwunden.  Etwa zehn bis 15 Prozent der Menschen sind laut Umfragen konstant anfällig für antisemitische Narrative, und durch Migration ist Deutschland mit einer weiteren Form von Antisemitismus konfrontiert. Er trifft auf den traditionellen von rechts und links,  da gibt es Allianzen, die auch ich nicht für möglich gehalten habe, von Gruppen, die normalerweise nie miteinander etwas zu tun haben: Linksextreme, Rechtsextreme, Islamisten, Corona-Leugner. Aber im Hass auf Jüdinnen und Juden sind sich alle einig. Ein Beispiel: Es ist schockierend, dass Menschen aus dem linken Spektrum  fordern: „Free Palestine from German guilt“ (Befreit Palästina von deutscher Schuld). Das  ist ähnlich der Schlussstrich-Forderung, die ja eigentlich bei Rechtsextremen verbreitet ist. 

Wie haben Sie auf diese dramatische Lage reagiert?

Polizei und Gerichte  reagieren konsequenter. Es sind alle Maßnahmen permanent auf dem Prüfstand. Wir haben die Justiz in die Lage versetzt, viel besser als früher Antisemitismus zu erkennen und Maßnahmen einzuleiten. So gibt es bundesweit Antisemitismus-Beauftragte in den Generalstaatsanwaltschaften, die die Sensibilität für dieses Thema bei den Strafverfolgungsbehörden schärfen. Auf die propalästinensischen – aus meiner Sicht meist israelfeindlichen –  Demonstrationen sind die Behörden nun vorbereiteter. Wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass antisemitische Parolen gebrüllt werden, können sie  untersagt oder mit Auflagen versehen werden. Dazu sind ja auch von mir angeregte Straftatbestände wie das Verbrennen ausländischer Flaggen eingeführt worden.

Viele Lehrerinnen und Lehrer wissen nur wenig über Antisemitismus oder Israels Geschichte. Können wir so dem Antisemitismus in Schulen genug entgegensetzen?

Lehrerinnen und Lehrer dürfen mit dem Thema nicht allein gelassen, sondern müssen für den  Umgang mit Antisemitismus und Rassismus ertüchtigt werden. Das Thema muss  verbindlich in die Lehramtsausbildung aufgenommen werden.  Außerdem muss dieser Themenkreis auch die Staatsgründung Israels umfassen. Mich schockiert es schon, dass bei vielen Menschen, die eigentlich gebildet sind, darüber kein Wissen vorhanden ist und dadurch Israel ausschließlich als Täternation wahrgenommen wird, Palästinenser wiederum ausschließlich als Opfer. Vieles ist unreflektiert.

In Deutschland setzt man sich zu Recht mit Holocaust-Gedenkstätten und jüdischen Friedhöfen auseinander, aber nur wenig mit lebenden jüdischen Menschen...

Wir haben in den vergangenen Jahren einiges erreicht, dass das Judentum, dass jüdische Menschen öffentlich wieder stärker wahrgenommen werden und sie über ihren Alltag sprechen. Umso trauriger ist, dass wieder das Gegenteil eintritt: Jüdinnen und Juden machen sich wieder unsichtbarer – aus Angst, angegriffen und für das Handeln Israels verantwortlich gemacht zu werden. Dabei haben die meisten Jüdinnen und Juden, die bei uns in Deutschland leben, ihre Wurzeln nicht einmal in Israel, sondern  zumeist in Osteuropa und Russland.

Propalästinensische Demos an Universitäten wirken auf jüdische Studierende oft bedrohlich. Warum gibt es so viel Kälte  und Empathielosigkeit gegenüber ihren Problemen?

In bestimmten Kreisen wird ein absolutes Feindbild Israel gepflegt, für das dann auch noch alle Jüdinnen und Juden, wo immer auf der Welt sie auch zu Hause sind, verantwortlich gemacht werden. Dem müssen wir entschieden entgegentreten. Jüdische Studierende brauchen hier ganz besonders unsere Solidarität und natürlich auch die der Studentenschaft. Außerdem muss etwa durch Ordnungsrecht und Hausrecht verhindert werden, dass Externe an Universitäten Hetzkampagnen starten. Wichtig sind auch hier Antisemitismusbeauftragte direkt an den Hochschulen, die in Beratungen und Fortbildungen für das Thema sensibilisieren. Auch im Studium selbst müssen  mehr Bezüge zum Antisemitismus aufgezeigt werden. 

Woher kommt der Antisemitismus im linken Milieu?

Hier wird der Antisemitismus im Kontext der gerade äußerst präsenten  postkolonialen Theorien gesehen. Dabei geht es ja um die Machtverteilung zwischen ehemaligen Kolonisatoren und den Unterdrückten. Staaten werden so oft recht simpel in „Gut“ und „Böse“ eingeteilt.  Der Staat Israel wird in diesem Zusammenhang fälschlicherweise als letztes Kolonialwerk des Westens gewertet.  Hinzu kommt eine internationale Vernetzung mit anderen linken Narrativen, die es seit Jahrzehnten gibt. Gerade in Afrika, wo Israel besonders stark in diesem postkolonialen Kontext wahrgenommen wird, sind jüdische Gemeinden so extrem unter Druck geraten.

Wo hört legitime Kritik an Israel auf?

Es muss möglich sein, Israel zu kritisieren. Dies wird auch jeden Tag gemacht. Ich selbst sehe die Siedlungspolitik sehr kritisch. Es wird antisemitisch, wenn man Vergleiche  zur Kriegsführung der Nazis zieht und mit Kategorien wie Genozid oder dem Vernichtungskrieg im Dritten Reich argumentiert. Und wenn Israel delegitimiert und dämonisiert wird als das Böse schlechthin. Es geht gerade vieles durcheinander. Auch ist es absurd, jüdische Bürgerinnen und Bürger in Kollektivhaftung zu nehmen für alles, was im Nahen Osten passiert.

Ist es hilfreich, wenn der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ernsthaft darüber nachgedacht hat, den Dialog mit Israel abzubrechen?

Überhaupt nicht. Wir müssen natürlich mit unserem Verbündeten Israel im Gespräch bleiben. Es ist die einzige Demokratie in der Region, es gibt vielfältige Kontakte auf allen Ebenen. Den Dialog abzubrechen, wäre eine Umsetzung des Boykottaufrufs. In einer Phase, wo das Land sich in einer Existenzkrise befindet, der falsche Weg. Ein kritischer Dialog ist wichtiger denn je.

Haben wir als Deutsche weiter  eine besondere Verantwortung in dem Konflikt?

Ja. Wir sind mit Israel verbunden wie mit keinem anderen Land. Die Gründungsgeschichte geht auch auf den Holocaust zurück, der von Deutschland verantwortet wurde. Wir arbeiten mit der EU zusammen, hier gibt es viele israelkritischere Sichten. Aber wir müssen als Deutsche mit unseren Positionen deutlich erkennbar bleiben.  

Macht Ihnen denn überhaupt noch etwas Hoffnung?

Wir sind nicht machtlos gegen Antisemitismus. Wir haben es geschafft, Strukturen dagegen aufzubauen. Beispielsweise im Fußball ist inzwischen die „Awareness“, also die Aufmerksamkeit, sehr, sehr hoch. Richter, Kirchen und Medien schauen genauer hin. Das Fahrwasser ist schwierig, weil das Umfeld so ist, wie es ist. Doch wir haben keine Wahl, als weiter dagegen zu kämpfen. Hass und Hetze dürfen nie die Oberhand bekommen.