Felix Klein: "Der Slogan ‚Queers for Palestine‘ entspricht in etwa der Logik von ‚Cows for McDonalds‘"

Typ: Interview , Datum: 14.08.2024

Felix Klein sprach im Interview mit Jacques Schuster von der WELT unter anderem über Judenhass als Bindeglied zwischen Extremistenlagern, die zuvor nichts miteinander zu tun hatten, über die Frage, warum Homosexuelle Terror und Islamismus unterstützen und er fordert deutsche Militärhilfe für Israel, sollte es vom Iran attackiert werden. Das Interview wurde in DIE WELT am 9. August veröffentlicht.

DIE WELT

Herr Klein, seit dem 7. Oktober 2023 geschehen Dinge in Israel und der Welt, von denen wir vor wenigen Jahren noch gedacht hätten, dass sie nie mehr geschehen würden: vom Pogrom des 7. Oktober angefangen bis über die weltweiten mitunter hasserfüllten Proteste gegen den jüdischen Staat und Juden als seine vermeintlichen Botschafter. Sind wir Zeugen eines neuen, in seiner Heftigkeit überraschenden Antisemitismus oder raten Sie zur Gelassenheit, weil das Phänomen ein altbekanntes ist?

Wir haben es seit dem 7. Oktober mit einer Explosion des Antisemitismus zu tun. Wir erleben ein Allzeithoch antisemitischer Straftaten, die durch das Bundeskriminalamt festgestellt worden sind. Auch das, was unterhalb der Strafbarkeitsgrenze geschieht, hat einen Rekordwert. Der 7. Oktober stellt eine sogenannte Gelegenheitstruktur dar.

Was bedeutet das?

Das bedeutet: Menschen, die immer schon antisemitisch denken, nehmen den 7. Oktober als Gelegenheit wahr, um das zu äußern, was sie denken - im Glauben, ihr Tun erfährt in dieser Lage besonders breite Zustimmung. Wenn man bedenkt, dass der 7. Oktober der Tag war, an dem so viele Juden wie nie zuvor seit der Shoah ermordet wurden, dann ist es an Absurdität nicht zu überbieten, dass sich ausgerechnet nach diesem Ereignis, der Antisemitismus auch noch radikalisiert und zunimmt.

Haben die antisemitischen Proteste in Deutschland eine neue Virulenz erreicht oder sticht vor allem die wachsende Zahl dieser Kundgebungen heraus?

Sowohl als auch. Gerade im akademischen Milieu, wo man eigentlich gewohnt sein sollte, differenziert zu denken, werden Zwischentöne und andere Sichtweisen zu häufig nicht mehr respektiert. Das empfinde ich als einen dramatischen Verfall der politischen Debatte. Und was die Quantität angeht, so erleben wir heute etwas Neues. Wir haben es mittlerweile mit Allianzen von gesellschaftlichen Gruppierungen und Extremisten zu tun, die früher gar nichts oder nur wenig miteinander zu tun hatten.

Zum Beispiel?

Es gibt Allianzen zwischen Rechtsextremen und Linksextremen, zwischen Islamisten und vermeintlich progressiven Gruppen. Den Rechtsextremismus, Islamismus und türkischen Nationalismus vereint etwa ideologisch die Ablehnung der Errungenschaften der modernen, westlichen Welt. Es geht dabei um durchaus kompatible Autoritätsvorstellungen, konservative Familienbilder, die Ablehnung von LGBTQ-Rechten oder Feminismus – und den Hass auf Israel und die Juden. Der AfD-Politiker Maximilian Krah hat in einem TikTok-Video die Bilanz des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gelobt - der für seine israelfeindliche Haltung bekannt ist. Nur eines von vielen Beispielen.

Inwieweit ist das, was wir mitunter an den Universitäten erleben das Ergebnis des Erstarkens der woken-postkolonialen Bewegung?

Was an den Universitäten geschieht, lässt sich als eine fehlgeleitete Langzeitwirkung der sogenannten postkolonialen Theorie deuten, deren Vertreter häufig eine simple Einteilung in Täter und Opfer vornehmen, wobei sie in den Juden immer den Täter und in den Palästinensern grundsätzlich die Opfer sehen – gleichgültig, was geschehen ist. Diese krude Anschauung ist meist mit Antiamerikanismus unterlegt. Die Proteste an den Unis verkörpern diese Ideologie. Ich bin schockiert darüber, welche Ausmaße das an den Hochschulen angenommen hat, vor allem auch, dass diese Weltanschauung mehr und mehr bis in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft hineinreicht.

Würden Sie so weit gehen und sagen, dass die Vertreter der woken Bewegung im Leninschen Sinne "nützliche Idioten" des Islamismus sind?

Ja, das ist so. Viele Jugendliche übersehen überhaupt nicht die Konsequenzen ihres Tuns und nehmen nicht wahr, dass sie instrumentalisiert werden. Im Grunde sind sie naiv, so naiv, dass sie sich auf der moralisch richtigen Seite wähnen, was sie nicht sind. Auch mir geht das Leid der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen nahe, aber in den Israelis Täter zu sehen, nach allem, was am 7. Oktober geschah, ist das Ergebnis einer ideologischen Verzerrung.

Wie lässt sich das Eintreten von queeren jungen Menschen für "free Palestine" erklären, die sich in einem "Free Palestine" nicht einen Tag frei bewegen könnten?

Ein Teil der queeren Bewegung gehört zum antiimperialistischen und dogmatischen Spektrum der linksextremistischen Szene, die sich massiv auf die antiisraelische Agitation konzentriert und diese verbreitet. Zu allem Übel verharmlost sie den Islamismus im Allgemeinen, den Terror der Hamas und der Hisbollah im Besonderen. Auch verdrängt sie, dass eine queere Person unter einer Hamas-Regierung nicht akzeptiert, in letzter Konsequenz sogar getötet werden würde. Der Slogan "Queers for Palestine" entspricht in etwa der Logik von "Cows for McDonalds".

Die Auflösung von Studentenprotesten an den Unis ist mitunter auf heftige Kritik der Professoren gestoßen. Können Sie die Aufregung verstehen?

Nein, ich verstehe diese Aufregung überhaupt nicht. Universitäten sind keine rechtsfreien Räume. Professoren müssen sich dafür einsetzen, dass diejenigen, die studieren, dies auch ungehindert tun können. Und das geht nicht, wenn ein Institut besetzt ist oder wenn Studierende daran gehindert werden. Von jüdischen Studierenden höre ich das immer wieder. Man vernimmt zudem zu Recht die Forderung, man müsse vulnerable Gruppen besonders unterstützen. Nur wird dabei vergessen: Auch jüdische Studierende bilden eine vulnerable Gruppe. Der Lehrkörper hat die Pflicht, sie in Schutz zu nehmen. Wie jede andere vulnerable Gruppe auch.

Viele Hochschullehrer fürchten, dass in der Abwehr von Antisemitismus die Lehrfreiheit auf der Strecke bleibt. Ist die Sorge berechtigt?

Natürlich gilt die größtmögliche Freiheit für die Wissenschaft und die Kunst. Dennoch halte ich es für selbstverständlich, zumindest gegenzusteuern, wenn antisemitische Umtriebe stattfinden. Das öffentlich geäußerte Gegenargument gehört zum Diskurs zwingend dazu. Häufig erleben ich eine Umkehr der Täter und Opferrolle und dann einen Aufschrei, man wolle die Meinungsfreiheit einschränken, wenn man gegen diese Umkehrung protestiert. Ich begrüße es sehr, dass viele Universitäten mittlerweile Ansprechpersonen zur Antisemitismusbekämpfung ernannt haben. Nur muss hierbei natürlich auch beachtet werden, dass diese Person auch das Vertrauen der jüdischen Studierenden genießt. Ich habe mit dem Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Professor Walter Rosenthal, ein Treffen im Herbst in Berlin vereinbart, auf dem sämtliche Antisemitismusbeauftragten der Hochschulen zusammenkommen, um gemeinsam zu erarbeiten, wie sich der Diskurs an den Hochschulen ordnen lässt.

Es gab heftige Proteste gegen Bildungsministerin Stark-Watzinger, weil sie öffentlich erwog, eine Antisemitismusklausel bei wissenschaftlichen Förderanträgen einzuführen. Ist das ein sinnvoller Gedanke?

Ich finde es zumindest begrüßenswert, dass die Wissenschaftsministerin versucht, den antisemitischen Diskurs zurückzudrängen. Dafür gibt es genügend Anlass. Das darf natürlich nicht darin ausarten, dass man unliebsamen Wissenschaftlern den Geldhahn zudreht, wenn diese eine andere Meinung vertreten. Ich glaube, die Ministerin sieht es nicht anders.

Im Bundestag wird eine Resolution gegen Antisemitismus vorbereitet, in der es um den Schutz und die Bewahrung jüdischen Lebens gehen soll. Braucht eine solche Resolution überhaupt? Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel daran, dass die staatlichen Institutionen für eben dieses eintreten.

Das stimmt und das ist auch gut so! Gleichwohl würde ich sehr begrüßen, wenn die demokratischen Parteien im Bundestag, angesichts der Verbrechen vom 7. Oktober, noch einmal klar und deutlich ein Sicherheitsversprechen für alle Jüdinnen und Juden ablegen, also ein Zeichen der Solidarität für das jüdische Leben in Deutschland geben. Diese Solidarität ist auch etwas, das von den jüdischen Gemeinschaften in Deutschland erwartet wird.

Der ehemalige rechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Jerzy Montag, warnt vor dieser Resolution, weil sie in der Gefahr steht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu stören. Wie sehen Sie das?

Diese Gefahr sehe ich nicht. Diese Resolution wäre rechtlich auch nicht verbindlich. Der Wert einer solchen Resolution liegt in ihrer symbolischen Bedeutung.

Kürzlich haben Sie gesagt, sollte es zu einem Angriff des Iran gegen Israel kommen, wäre eine militärische Beteiligung Deutschlands geboten. Geht diese Bemerkung nicht über die Kompetenzen des Antisemitismusbeauftragten hinaus?

Nein. Zum einen gehört zu meinen Aufgabenfeld auch die Bekämpfung des israelbezogenen Antisemitismus in den Formen, die wir auch in Deutschland spüren. Zum anderen verweise ich auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Er sieht eindeutig vor, dass dem Land, das von einem anderen Staat angegriffen wird, Hilfe gewährt werden kann, wenn es um Beistand bittet. Im Fall eines iranischen Angriffs auf Israel müsste es für Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein, dem jüdischen Staat im Notfall durch ein militärisches Eingreifen der Bundeswehr zu helfen. Dieser Beistand wäre vom Völkerrecht gedeckt. Im Übrigen: Wenn das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson gehört, was immer das im Einzelnen auch heißen mag, dann muss eine militärische Hilfe Deutschlands, soweit sie gewünscht ist, auch erfolgen.

Darüber hinaus würden wir mit konkreter militärischer Hilfe für Israel international auch keineswegs eine Sonderrolle einnehmen. Neben den USA und arabischen Staaten haben auch europäische Länder, darunter unser enger Partner Frankreich, aktiv an der Abwehr des massiven iranischen Angriffs auf Israel im April mitgewirkt.

Das schließt dann auch deutsche Waffenlieferungen ein, wenn ich Sie recht verstehe.

Selbstverständlich.

Ist das jüdische Leben in Deutschland nach den Tötungen zentraler Hisbollah- und Hamasführer gefährdeter als sonst?

Leider ist das so. Seit Jahren lässt sich folgender Mechanismus beobachten: Wenn die Spannungen im Nahen Osten zunehmen, wirkt sich das direkt aus auf jüdischen Einrichtungen und jüdischen Menschen hier in Deutschland aus.

Reichen die Sicherheitsvorkehrungen aus?

Vor einigen Monaten veröffentlichte der Zentralrat der Juden eine Umfrage unter den jüdischen Gemeinden. Demnach sind 96 Prozent Befragten zufrieden oder sehr zufrieden mit der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden. Auch im internationalen Vergleich stehen wir gut da.

Weil Sie den internationalen Rahmen ansprechen, wie steht es um die Zusammenarbeit mit den europäischen Behörden und der EU-Kommission im Abwehrkampf gegen den Antisemitismus?

Da sich derzeit eine neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen bildet, ist es mir sehr wichtig, ein Appell loszuwerden: Die Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission braucht dringend ein stärkeres Mandat, als sie es bisher besaß. Sie braucht einen ordentlichen Unterbau für ihre Arbeit und entsprechende Durchgriffsrechte. Die neue Kommission sollte sie ihr gewähren.