Felix Klein: „Wir dürfen nicht alle 5,5 Millionen Muslime in Deutschland unter Generalverdacht stellen“
Interview 10.07.2024
Felix Klein sprach im Interview mit Lukas Koperek vom FOCUS Magazin über die Nachwirkungen des Terrorangriffs der Hamas auf Israel. Dabei ging es insbesondere um die Frage, woher der Hass gegen Jüdinnen und Juden kommt, der seit dem Angriff auch in Deutschland extrem zugenommen hat. Das Interview wurde in der FOCUS-Ausgabe 26/2024 veröffentlicht, die am 26. Juni 2024 erschien.
Focus
Vorhin bin ich an der Neuen Synagoge vorbeigekommen. Die Sicherheitsschranken vor dem Eingang sehen nicht viel anders aus als die hier am Innenministerium.
Das ist natürlich ein martialischer Anblick – aber leider notwendig. Da stehen ja nicht nur die Polizei und Sicherheitsleute der Gemeinde vor dem Eingang. Man sieht Absperrungen, Poller, Überwachungskameras. Die Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen sind nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober von einem Tag auf den anderen hochgefahren worden. Der Staat hat da schnell reagiert.
Denken Sie, Juden fühlen sich dadurch sicherer in Deutschland?
In der Synagoge schon. Aber in der Öffentlichkeit versuchen viele Jüdinnen und Juden heute, möglichst unsichtbar zu sein. Sie gehen nicht mehr zielgerichtet in die Synagoge hinein, sondern unauffällig, benutzen andere Eingänge, um nicht als Synagogenbesucher erkannt zu werden. Männer tragen ihre Kippa nicht mehr, bevor sie in die Synagoge gehen. Frauen zeigen zum Beispiel ihre Ketten mit dem Davidstern nicht mehr offen. Im Jahr 2023 gab es fast doppelt so viele antisemitische Straftaten wie im Vorjahr. Das besorgt mich sehr.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Wirklich dramatisch geworden ist es nach dem 7. Oktober. Diese Entwicklung hat sich aber schon über viele Jahre abgezeichnet. Den ersten großen Dammbruch gab es meiner Meinung nach im Jahr 2012, als das Kölner Beschneidungsurteil ergangen ist.
Damals hat das Landgericht Köln die Beschneidung aus religiösen Gründen als Körperverletzung eingestuft …
… und das hat in der Öffentlichkeit eine Flut antisemitischer Hetze nach sich gezogen. Dabei ging es bei dem Urteil noch nicht einmal um ein jüdisches, sondern um ein muslimisches Kind.
Wie erklären Sie sich das?
Für Judenhasser war das Urteil eine willkommene Gelegenheit, um die Menschen aufzuhetzen und antisemitische Narrative zu verbreiten. Diese Art der Instrumentalisierung erleben wir immer wieder, auch beim Krieg in Gaza. Dass sie auf fruchtbaren Boden stößt, bedeutet auch, dass die judenfeindlichen Tendenzen schon vorher da waren. Studien zufolge ist ein großer Teil der Bevölkerung Deutschlands anfällig für antisemitische Gedanken.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel stimmen bis zu 40 Prozent der folgenden Aussage zu: „Bei dem, was Israel tut, kann ich verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“ Dabei ist dieser Satz ja völlig irre! Was haben Juden in Deutschland mit dem Vorgehen der israelischen Regierung zu tun? Die haben als deutsche Staatsbürger nicht einmal Einfluss auf die Wahlen in Israel.
Immer wieder gibt es antisemitische Krawalle an deutschen Hochschulen. Wieso neigt ausgerechnet das politisch eher links eingestellte, akademische Milieu zu solchen Ausfällen?
Der Antisemitismus der akademischen Linken hat eine lange Tradition. Einer der Ursprünge ist die sogenannte postkoloniale Theorie. Nach dieser Sichtweise ist Israel eine westliche Kolonialmacht, die die ursprüngliche Bevölkerung, die Palästinenser, unterdrückt und vertreibt – eine sehr fragwürdige Geschichtsbetrachtung. Schon 1969 versuchte die linksterroristische Gruppe Tupamaros West-Berlin, einen Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus zu begehen. Ihre Brandbombe war zum Glück ein Fehlzünder. Aber ihre Ideologie lebt bis heute fort.
Kürzlich stand die Präsidentin der TU Berlin, Geraldine Rauch, in der Kritik. Sie hatte auf der Plattform X antisemitische Posts gelikt. Anders als der Zentralrat der Juden haben Sie nicht Rauchs Rücktritt gefordert.
Das habe ich aus Respekt vor der Wissenschaftsfreiheit und der Autonomie der Hochschule nicht getan. Trotzdem liegt auf der Hand, dass Frau Rauch sich sehr problematisch verhalten hat. Es geht ja nicht nur um das Liken antisemitischer Posts.
Sondern?
Auch darum, dass sie antisemitische Ideen verbreitet hat, offenbar ohne sich dessen bewusst zu sein. Das ist Führungsversagen auf ganzer Linie. Und das nur eine Woche nachdem sie jüdischen Studierenden versprochen hat, die TU sei ein sicherer Ort für sie. Für die jüdische Community ist das wie ein Schlag ins Gesicht.
Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus?
Die Grenze verläuft da, wo Israel dämonisiert wird. Wenn man Israel zum Beispiel als Apartheidstaat oder die israelische Armee mit der Wehrmacht vergleicht. Das relativiert nicht nur die Verbrechen der Nationalsozialisten, sondern verhöhnt auch noch ihre Opfer. Im Grunde sagt man damit: Wenn die Nachkommen der Holocaustopfer jetzt selbst zu Tätern werden, kann das, was die Nazis gemacht haben, ja nicht so schlimm gewesen sein. Diese Relativierung haben linke Intellektuelle schon in der Nachkriegszeit betrieben. Sie haben damals vom „Judenknacks“ der Deutschen gesprochen.
Judenknacks?
Dass die Deutschen wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit Juden und dem Staat Israel angeblich Dinge durchgehen lassen, die sie anderen nicht durchgehen lassen würden.
Ist da nicht auch etwas dran? Im Vergleich zu anderen EU-Staaten hält sich Deutschland mit Kritik an der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen ziemlich zurück.
Auch wenn der Zionismus schon vorher existierte, ist der Staat Israel letztlich wegen der Shoah überhaupt gegründet worden. Angesichts der Verantwortung Deutschlands für die Shoah haben wir auch eine große Verantwortung gegenüber Israel. Unsere Unterstützung schließt Kritik allerdings nicht aus. Annalena Baerbock hat Israel bereits ermahnt, das Völkerrecht einzuhalten. Ihr wirft niemand Antisemitismus vor.
Nach dem Massaker am 7. Oktober haben Muslime die Hamas in Berlin auf der Straße gefeiert. Warum ist der muslimische Antisemitismus immer noch ein Tabuthema?
Da müssen wir erst einmal differenzieren. Wir dürfen nicht alle 5,5 Millionen Muslime in Deutschland unter Generalverdacht stellen. Trotzdem stimmt es: In der muslimischen Bevölkerung ist Antisemitismus stärker verbreitet als in der übrigen Bevölkerung. Das ist auch dadurch zu erklären, dass viele Muslime in Ländern sozialisiert wurden, wo Judenhass an der Tagesordnung ist.
Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.
Ich denke nicht, dass Antisemitismus unter Muslimen immer noch ein Tabuthema ist. So ist eine Folge des 7. Oktober auch, dass wir über diese Form von Judenhass offener sprechen können, ohne dass es sofort heißt, wir würden den Rechtspopulisten das Wort reden.
Und vor dem 7. Oktober?
Da war es anders. Viele hatten Angst, als Muslimhasser oder Rassisten zu gelten, wenn sie das Problem offen ansprachen. Jetzt lässt es sich aber nicht mehr von der Hand weisen. Bei den propalästinensischen Demonstrationen, bei denen antisemitische Parolen skandiert werden, stammen die meisten Teilnehmer aus der muslimischen Community. Dass wir endlich darüber sprechen, ist gut. Es gibt keinen harmlosen Antisemitismus, ob von rechts, von links, religiös oder ideologisch motiviert.
Hat die Integration da versagt?
Leider ja.
Eine deutliche Antwort.
Das Thema ist viel zu lange vernachlässigt worden. Schon in den 50 Jahren hat man bei Einwanderern den Fehler gemacht, sich fast ausschließlich auf die Vermittlung der deutschen Sprache zu konzentrieren. Man muss aber auch proaktiv die bei uns geltenden Werte vermitteln, etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Religionsfreiheit oder auch die Erinnerung an den Holocaust, sonst setzen sich alte Vorurteile über Generationen hinweg fort.
Die Erinnerungskultur wird vor allem von rechts angegriffen. 2017 nannte der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke das Holocaust-Mahnmal in Berlin „Denkmal der Schande“.
Die Rechtsextremisten verfolgen das Ziel, die roten Linien des politischen Diskurses immer weiter zu verschieben. Das reicht bis hin zur Holocaustrelativierung, etwa wenn Höcke die verbotene SA-Parole „Alles für Deutschland“ benutzt oder Maximilian Krah die Verbrechen der SS relativiert. Wenn sie dann dafür kritisiert werden, stellen sich diese Politiker gerne als Opfer dar. Bei ihren Anhängern schürt das auch Ressentiments gegen Juden. Nach wie vor geht der Großteil der antisemitischen Straftaten vom rechtsextremen politischen Spektrum aus.
Welche antisemitischen Tendenzen sehen Sie noch bei der AfD?
In Teilen der AfD gibt es immer wieder die Forderung, das rituelle Schächten zu verbieten. Das geschieht unter dem Deckmantel des Tierschutzes, richtet sich aber ganz klar gegen die Religionsfreiheit von Juden. Ich habe noch keinen AfDler mitbekommen, der sich gegen Gänsestopfleber oder Massentierhaltung ausspricht.
Was kann man tun, um den Antisemitismus in Deutschland zu bekämpfen?
Zunächst muss man das Problem sichtbar machen. Wir haben etwa eine Meldestelle namens RIAS geschaffen, die bundesweit antisemitische Vorfälle erfasst. Damit können wir besser verfolgen, wo und in welcher Form Judenhass auftritt, und zielgenauer Präventionsarbeit leisten. Unsere Bund-Länder-Kommission berät über bundesweite Maßnahmen im Feld der Erinnerungskultur oder im Bildungsbereich, zum Beispiel darüber, wie man gegen Antisemitismus in Schulen vorgehen kann. Wir sind auf einem guten Weg.
Wird die Neue Synagoge also eines Tages ohne Sicherheitsschranken auskommen?
Darauf arbeite ich hin.