Felix Klein: "In unserer Kultur ist Antisemitismus leider so eingeübt, dass er schnell zum Ventil wird"

Typ: Interview , Datum: 08.09.2020

Felix Klein sprach im Interview mit den beiden Redakteuren der Welt am Sonntag, Frederik Schindler und Jacques Schuster, über die Verschwörungstheoretiker auf der jüngsten Berliner Demonstrationgegen die Corona-Maßnahmen und die Kritik an seiner Amtsführung. Das Interview wurde in der Welt am Sonntag vom 6. September 2020 veröffentlicht.

Welt am Sonntag

Welt am Sonntag: Herr Klein, in Berlin sind auf der Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen viele mitunter sogar führende Gestalten der rechtsextremen Szene mitgelaufen. Inwieweit sollte diese Tatsache dazu führen, solche Veranstaltungen zu meiden?

Felix Klein: Keiner kann die Haftung für alle Demonstranten in einem Zug übernehmen. Trotzdem hat die jüngste Demonstration gezeigt, dass man künftig genau darauf achten sollte, wer sonst noch mitläuft. Es darf nicht sein, dass sich Demokraten gemein machen mit Rechtsradikalen. Wir beobachten seit Wochen, dass Rechtsextreme versuchen, die Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Bundesregierung im Zusammenhang mit Corona für ihre Belange zu kapern. Das halte ich für sehr gefährlich, denn das Problem sind nicht irrationale Maskengegner auf Hygienedemos, sondern jene rechtsextremen Kräfte, die diese Bewegung zu vereinnahmen versuchen. Die Politik muss sich diesen Trend genau anschauen und über höhere Auflagen und auch über Verbote nachdenken.

Wie erklären Sie sich, dass in Deutschland derartige Proteste schnell mit antisemitischen Verschwörungstheorien und ähnlich kruden Ideen verbunden sind?

In unserer Kultur ist der Antisemitismus leider so eingeübt, dass er schnell zum Ventil wird, seine Unzufriedenheit auszudrücken. Die Menschen sind in Krisenzeiten leider sehr empfänglich für irrationale Erklärungsmuster. Im Mittelalter bei Ausbruch der Pest wurden die Juden verantwortlich gemacht. Heute bei Corona ist die Chiffre Israel in den Vordergrund gerückt: Israelische Forscher hätten das Virus in die Welt gesetzt, damit israelische Firmen der Welt ihren Impfstoff verkaufen könnten. Derartigen Unsinn liest man immer wieder. Hinzu kommt, dass gerade während der Pandemie die verschiedenen Formen des Antisemitismus, der rechte, der linke und der islamistische Antisemitismus, unabhängig voneinander verstärkt werden und in hochgefährlicher Weise zusammenwirken.

Sehen Sie noch Möglichkeiten, auf diese Personen einzuwirken, oder sind sie für die Demokratie verloren?

Ich bin optimistisch, dass wir sie noch erreichen. Allerdings müssen wir aktiver werden. Wir dürfen nicht warten, bis die Leute straffällig werden. Es kann nicht sein, dass Aussteigerprogramme für Rechtsextreme erst dann einsetzen, wenn die Leute bereit sind auszusteigen. Es fehlt eine Stufe davor. Wir müssen Programme entwickeln und aktiv auf diese Menschen - etwa auf ehemalige Angehörige der Polizei oder der Bundeswehr, die wegen rechtsextremistischer Aktivitäten aus dem Dienst entfernt worden sind - zugehen, um ihnen den Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft zu zeigen, Unterstützung zu bieten und auch ihr Umfeld zu sensibilisieren.

Die Unionsfraktion fordert nach der Demonstration in Berlin, den Verfassungsschutz zu verstärken. Hat sie recht?

Ich halte das für sehr wichtig, gerade im Licht des letzten Wochenendes. Besonders die Beobachtung der rechtsextremen Szene sollte verstärkt werden. Der Bundesinnenminister hat gerade in dieser Woche noch einmal betont, dass er im Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie sieht. Zu Recht. Hanau, Halle, der Mord an Walter Lübcke und nun die Berliner Ereignisse - das zeigt, wie groß und wie vielschichtig die Gefahr ist.

Sollte es in Berlin wieder eine Bannmeile geben, so wie es sie in Bonn gab - mit einem generellen Demonstrationsverbot vor den Verfassungsorganen?

Ich halte dies für sinnvoll. Und das hat auch nichts damit zu tun, der Bundestag würde sich verbarrikadieren. Hier geht es um die Achtung der wichtigsten demokratischen Institution. Sie sollte auch geschützt werden, wenn dasParlament keine Sitzungswoche hat. Das gebietet der Respekt vor der Institution.

Leben wir in Deutschland in einer Atmosphäre der Brandmarkung, der Einschüchterung und Angst?

Auf gar keinen Fall. Die Grundrechte auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung sind hohe Güter, die es zu schützen und zu achten gilt. Auch die Bundestagsresolution zur BDS-Bewegung, also gegen die Bewegung, die für einen Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel eintritt, hat die Meinungsfreiheit nicht in unzulässiger Weise eingeschränkt.

In einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin haben Ihnen deutsche und israelische Wissenschaftler genau dies vorgeworfen. Wie erklären Sie sich diesen Angriff?

Die BDS-Entscheidung des Bundestags und die von mir ausgelöste Debatte haben offengelegt, dass es mehrere Narrative zum Antisemitismus gibt, die aber nicht hinreichend in der Öffentlichkeit thematisiert wurden. In diesem Sinne ist es gut und richtig, dass es zu dieser Debatte gekommen ist. Was ich bedauere, ist, dass der Brief einige Unwahrheiten enthält und etwa dem Berliner Kammergericht unterstellt, wegen des allgemeinen Klimas nicht mehr unabhängig zu urteilen. Das ist eine böswillige, völlig inakzeptable Bezichtigung der Justiz, die man zurückweisen muss.

Kann es sein, dass sich die Autoren daran stören, dass Sie auch den Antizionismus als eine Form des Antisemitismus begreifen?

Ja, aus meiner Sicht ist das so. Ich habe auch den Eindruck, dass in diesem Brief eine innerisraelische Debatte ihren Ausdruck findet und versucht wird, sie nach Deutschland zu tragen. Mir ist bekannt, dass in dieser Debatte der israelischen Regierung vorgeworfen wird, Kritik an ihrer Politik allzu schnell als antisemitisch zu bezeichnen, und sie sich dadurch inhaltlichen Auseinandersetzungen angeblich nicht stellt. Dazu kann ich nur sagen: Ich bin Beauftragter der Bundesregierung im Kampf gegen Antisemitismus. Meine Aufgabe ist es, auch Antizionismus in Deutschland zu benennen und dagegen vorzugehen. Wenn also das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird, dann erhebe ich meine Stimme, gleichgültig, wer in Israel regiert.

Es wird immer wieder der Vorwurf erhoben, man dürfe Israel nicht kritisieren. Ist es nicht umgekehrt? Gehört es in Deutschland wie überall in der westlichen Welt nicht fast zum Zeitgeist, Israel zu kritisieren?

Außergewöhnlich ist jedenfalls die große Aufmerksamkeit, die in der Berichterstattung besteht, wenn es um Israel und den Nahostkonflikt geht. In der neuen ständigen Ausstellung des Jüdischen Museums gibt es einen Raum, der zeigt, wie viele "Spiegel"-Titel seit 1967 zu Israel veröffentlicht wurden - oft mit negativ besetzten Untertönen. In der deutschen Berichterstattung wird bei Israel oftmals ein doppelter Standard angelegt. Ich kann nur appellieren, fair mit Israel umzugehen. Das geschieht mir immer noch zu wenig.

Im Landgericht Magdeburg wird aktuell der Prozess gegen den Halle-Attentäter verhandelt. Der bisherige Prozess zeigte, dass das antisemitische und rassistische Weltbild im Umfeld des Täters bekannt war, dieses jedoch gleichgültig gegenüber eindeutigen Aussagen blieb. Wie kann diesem Desinteresse entgegengewirkt werden?

Der Staat allein kann es nicht richten. Wir brauchen eine wachsame, mutige Zivilgesellschaft. Antisemitismus und Rassismus bedrohen nicht nur Juden und Menschen aus Einwandererfamilien, sondern unsere Art zu leben. Hier müssen auch Nichtbetroffene aktiv eingreifen. In den Schulen muss Demokratieerziehung eine größere Rolle spielen. Und die Erinnerungskultur darf nicht bei Ritualen an Gedenktagen stehen bleiben. Mit neuen Formen müssen wir verstärkt jüngere Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund erreichen. Wer in unserer Gesellschaft erfolgreich sein will, muss sich mit der Geschichte des Landes auseinandersetzen.

Im Laufe des Verfahrens kam heraus, dass der Hallenser Polizei nicht bekannt war, dass am 9. Oktober der höchste jüdische Feiertag gefeiert wurde. Sind die Sicherheitsbehörden ausreichend sensibilisiert, was den Umgang mit Judenhass angeht?

Hier gibt es Defizite, aber der Anschlag von Halle hat Prozesse in Gang gesetzt, wonach bei der Polizei für eine bessere Kenntnis jüdischer Feiertage gesorgt wird. Es wäre aus meiner Sicht auch wichtig, dass die für den Schutz jüdischer Einrichtungen zuständigen Polizisten die entsprechenden Einrichtungen auch mal von innen sehen, um ein Verständnis für die Diversität jüdischen Lebens zu entwickeln.

Wie erklären Sie sich, dass die Zahl der antisemitischer Vergehen zunimmt?

Ein Großteil dieser Delikte betrifft das Internet. Die Enthemmung ist dort so weit fortgeschritten, dass es auch den strafrechtlichen Bereich betrifft. Das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität muss endlich in Kraft treten. Hiervon verspreche ich mir große Erfolge, da die Identität der Täter dadurch leichter zu ermitteln sein wird. Zudem gibt es ein verbessertes Anzeigeverhalten der Betroffenen. Mich besorgt allerdings sehr, dass auch die Anzahl der Gewaltdelikte angestiegen ist.

Schon länger gibt es Kritik an der Polizeilichen Kriminalstatistik, die etwa 90 Prozent der antisemitischen Straftaten der politisch motivierten Kriminalität von rechts zuordnet, während viele Betroffene stärker von Tätern aus anderen Milieus berichten. Ist sie gerechtfertigt?

Viele Betroffene nehmen die Aggressionen von islamistischen Tätern als sehr viel stärker wahr, als das in der Statistik zum Ausdruck kommt. Das Bundeskriminalamt kontrolliert jede einzelne Meldung zu antisemitischen Straftaten noch einmal nach. Wenn auf der Al-Kuds-Demonstration von radikalen Muslimen der Hitlergruß gezeigt wird, ist das in meinen Augen keine rechte Tat, obwohl sie als solche zugeordnetwird. Darüber müssen wir ernsthaft sprechen und dabei auch das subjektive Empfinden der Betroffenen einbeziehen. Bei den Meldesystemen antisemitischer Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze ist der Anteil rechtsradikaler Täter bereits deutlich geringer und der Anteil islamistischer Täter deutlich höher erfasst.